Magenkrebs und Speiseröhrenkrebs überleben
Magenkrebs und Speiseröhrenkrebsüberleben

Langzeitfolgen mental / psychisch

 

 

Unter den Chemos hat mein Konzentrationsvermögen zunächst extrem gelitten. So sehr, dass es mir anfangs kaum möglich war, einer Unterhaltung länger als 5-10 Minuten zu folgen. Dieses Problem hat sich im Laufe der vergangenen fast 6 Jahre zuerst recht schnell, dann immer langsamer gebessert, aber es bestehen immer noch deutliche Veränderungen gegenüber dem früheren Zustand:

ich kann wieder sehr lange und konzentriert an unterschiedlichsten Dingen arbeiten, auch mehrere Stunden ohne Pause an Schriftstücken, Gemälden oder anspruchsvollen Bastelarbeiten. Die Teilnahme an langen, konzentrierten, inhaltlich anspruchsvollen  Gesprächen ist ebenfalls kein Problem, und richtig anstrengende Konzentrationsübungen wie schwierige Landeübungen im Flugsimulator sind mehr angespannter Spaß als Arbeit. Auch lange Motorradtouren fühlen sich inzwischen wieder entspannt und sicher an.

Schwieriger ist es, neue Dinge zu erlernen, wie z.B. ein neues, schwer zu spielendes Musikinstrument, aber das mag vielleicht auch schon ein bisschen altersbedingt sein.

Am auffälligsten ist aber, dass ich das, was Männer angeblich sowieso schlecht können, nun fast gar nicht mehr kann: Multitasking. Wenn ich einer Fernsehsendung folge, und jemand mir nebenbei kurz etwas erzählen will, kann ich beidem nicht mehr folgen. Wenn ich an irgend etwas einigermaßen konzentriert arbeite, vergesse ich die Uhrzeit, andere Termine und die nächste Mahlzeit. Wenn ich mit jemandem telefoniere, und jemand anderer spricht dabei auf mich ein (was z. B. früher im Büro nie ein Problem für mich war), bringt mich das dermaßen in Stress, dass ich sehr aufpassen muss, darauf nicht agressiv zu reagieren.

Oft stelle ich fest, dass ich lange nicht mehr so stressfest bin wie früher.

 

Psychisch bin ich in den letzten Jahren, wie wohl alle Krebspatienten, durch mehrere Höhen und Tiefen gegangen. Während der Therapie ist es mir aber irgendwie gelungen, den Blick immer wieder auf die positiven Dinge zu richten und so immer recht optimistisch zu bleiben. Selbst die bei anderen immer vor den Nachsorgeterminen kurzfristig auftretenden Ängste vor einer Rückkehr der Krankheit haben sich bei mir in sehr engen Grenzen gehalten.

Einige Monate nach der ersten Reha bin ich zum ersten Mal in ein tieferes psychisches Loch gefallen, aber das war eher so eine grundsätzliche Sinnkrise. Weil man einfach alles, was noch kommen könnte im Leben, aufgrund der gesundheitlichen Situation, der Risiken u.s.w. in Frage stellt, und weil sich der Blick irgendwann mal auf all die Dinge fokussiert, die man angeblich nicht mehr machen kann. Es war mehr ein Selbstbedauern als echte Angst vor irgendwas. Und es war zum Glück nur einer von ganz wenigen, sehr leichten und kurzen Anfällen dieser Art. Nur gut, dass mir in diesen Momenten niemand leise weinend bestätigt hat, was für ein armer Wurm ich doch bin, denn das hätte mir überhaupt nicht geholfen.

Ich habe stattdessen immer wieder neue positive Aspekte für mich gefunden, wie Sport, kleinere Reisen oder schöne, lange Urlaube, mal was schönes anschaffen, und natürlich ein schönes Umfeld mit Familie und Freunden.

Mittlerweile habe ich die Angst oder besser Sorge vor Rückfällen, Spätfolgen u.s.w. fast verloren, und zwar aus folgenden Gründen:

 

  1. Sorgen um ungelegte Eier oder Dinge, die man im Ernstfall sowieso nicht ändern kann, bringen niemandem etwas, mir selbst am allerwenigsten, und sie würden mich nur davon abhalten, die Tage zu genießen.
  2. Ich habe so vieles ertragen und überstanden in den letzten Jahren, habe mich so intensiv mit Krankheit und Tod auseinandergesetzt und wurde mit so viel schöner Lebenszeit belohnt, dass ich mich jetzt oder in Zukunft wohl etwas gelassener mit dem Unvermeidlichen abfiinden könnte.
  3. Aufgrund der regelmäßigen Nachsorgeuntersuchungen und der etwa  eineinhalbjährlichen Besuche beim Kardiologen bin ich wahrscheinlich der Mann mit dem bestkontrollierten Gesundheitszustand in unserem Freundeskreis oder sogar im ganzen Dorf. Das macht mir bewusst, dass viele vermeintlich gesunde gleichaltrige Menschen in meiner Umgebung wahrscheinlich ein größeres Risiko haben, morgen sehr ernst zu erkranken oder tot umzufallen, als ich.

 

Mit anderen Worten: ich bin inzwischen ziemlich durchgelockert.

Das Thema psychische Langzeitfolgen würde ich deshalb eher als einen langen Erarbeitungs- und Verarbeitungsprozess sehen, an dessen Ende, bei manchen früher, manchen später, ein bewussterer und entspannterer Umgang mit all den Dingen steht, die vielen noch bevorstehen. Dass wir mit vielen Themen des Lebens jetzt sowieso viel bewusster umgehen, ist ebenfalls ein Ergebnis dieses Prozesses. 

Diese Aspekte sind vielleicht ein Anhaltspunkt dafür, dass unsere Krankheit bei allen unschönen Dingen irgendwie auch ihre guten Seiten hat.

 

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© - Frank Maienschein 2017